Humbert Humbert hat nicht viel für Frauen übrig, den meisten von ihnen bringt er nur Verachtung entgegen. Ihn faszinieren nur blutjunge Mädchen in der Pubertät, die er „Nymphchen“ nennt. Als er von Frankreich in die USA übersiedelt, mietet er ein Zimmer bei der Witwe Charlotte, deren Tochter Dolores, genannt „Lolita“, mit 12 Jahren genau im richtigen Alter für seine pädophile Neigung ist – und Humbert verfällt ihr völlig. Er heiratet Charlotte, um Lolita nahe zu sein.
Es gibt wenige Bücher, die im Laufe ihrer Rezeptionsgeschichte so kontrovers diskutiert wurden wie Nabokovs größter Erfolg. Ein Roman geschrieben aus der Sicht eines Pädophilen, der jahrelang ein junges Mädchen ausnutzt, wie kann man sich an so etwas erfreuen? Manche Leser rühren das Buch gar nicht erst an, weil sie fürchten, es könnte so etwas wie Sympathie für den Ich-Erzähler entstehen. Diese Befürchtung hat sich bei mir nicht bestätigt. Humbert Humbert ist nicht nur abscheulich, weil er pädophil ist, er legt auch abseits dessen Verhaltensweisen und Einstellungen – vor allem gegenüber Frauen – an den Tag, die ihn höchst unsympathisch machen. Seine diversen Rechtfertigungsversuche ziehen nicht – dass zur damaligen Zeit und leider auch noch heute je nach Kultur Kinderehen als normal angesehen wurden, macht seine Handlungsweise nicht besser. Auch wenn er, wie er anmerkt, nicht einmal der erste Liebhaber der frühreifen Lolita ist. Gleichzeitig ist er jedoch ein genialer Sprachkünstler, Nabokovs Werk wird nicht umsonst als eine „Liebeserklärung an die englische Sprache“ bezeichnet. Das ist auch die Antwort auf die Frage, wie man ein solches Werk genießen kann: Die Sprache und der sprachliche Humor sowie die vielfältigen Anspielungen auf andere Werke der Literatur machen den Roman zu einem Meisterwerk. Gerade die Anspielungen auf Edgar Allen Poe, der bekanntermaßen seine 13-jährige Cousine heiratete, haben mir sehr gefallen.
Was den Plot angeht, hat mich das Buch ein wenig enttäuscht, es handelt sich über weite Strecken um ein Roadmovie, was ich überhaupt nicht mag und mich streckenweise auch gelangweilt hat. Insbesondere der zweite Teil zieht sich doch ziemlich lange und ich persönlich habe eigentlich nur noch darauf gewartet, dass Humbert endlich verhaftet wird. Das ist kein Spoiler, denn Humbert berichtet in der Rückschau aus der Gefängniszelle heraus von den Ereignissen.
Abgesehen von der großartigen Sprache bietet der Roman breitgefächerte Diskussionsmöglichkeiten, sodass er sich besonders gut für Lesegruppen eignet. (Auch ich habe ihn gemeinsam mit Goodreads-Freunden gelesen und die Diskussion war sehr intensiv.) Interessant ist etwa das Motiv, das meiner Meinung nach Nabokovs Hauptinspiration für den Roman war, nämlich der Kontrast zwischen dem unsympathischen, ja widerlichen Protagonisten und der fantastischen Sprache, die das Buch so faszinierend macht. Auch spannend ist die Frage, ob hier das alte, verkommene Europa das junge, frische Amerika verdirbt oder umgekehrt. (Nabokov selbst erklärt im Nachwort jedoch, dass dies kein Motiv für ihn war.)
Besonders interessant fand ich die Frage, ob Nabokov das Buch eher als russischer, russisch-europäischer oder doch sogar als amerikanischer Autor schrieb, einige Mitglieder unserer Lesegruppe wiesen auf die kritische Haltung gegenüber der amerikanischen Kultur hin, andere nahmen Nabokov tatsächlich in der angelsächsischen Tradition wahr, zu diesen zählte ich. Ich bin letztendlich zu dem Schluss gekommen, dass es sich um eine Melange handelt, die Eigenschaften der verschiedenen Traditionen miteinander vereint.
Weiterhin ist es für des Englischen mächtige Leser interessant, das Original mit der Übersetzung zu vergleichen.
Ich kann „Lolita“ aufgrund der Schwächen im Plot keine 5 Sterne geben, aber auch nicht weniger als 4, da die Sprache wirklich außergewöhnlich viel Spaß bringt. Eine lohnende Lektüre ist „Lolita“ in jedem Fall, vor allem für Lesegruppen und Buddyreads.
Lolita will ich auch unbedingt noch lesen. Im Regal steht es schon seit einer Weile, richtig in Stimmung war ich dafür bisher noch nicht, aber gerade juckt es mir quasi ein wenig in den Fingern. ^^
Es lohnt sich echt wegen der Sprache und des Humors 🙂
Did you know the story about Adolf Eichmann’s response to it? https://apenfullofvinegar.wordpress.com/2014/06/10/lolita-and-eichmann/
I only know this because of being a fan of Hannah Arendt.
I think you’re correct about everything here: language, plot, unlikability of the protagonist, distaste for American culture that I sometimes share, and I think it’s probably a great novel. I say probably because despite all of the book’s strengths, I could never get emotionally connected to it in any way. It all seemed very detached to me. It’s not just that I couldn’t like or identify HH, it’s that it also seemed superfluous to dislike him.
Interesting. Isn’t it incredible how much room for discussion the book provides? It’s high time I tackled Hannah Arendt’s work, thanks for the reminder! 😉
I really love Arendt. She wasn’t right about everything, but she was right about a lot (and I think she is often misunderstood). My faves are Eichmann in Jerusalem and Origins of Totalitarianism, but The Human Condition is also worth careful reading. I think most of her other works are probably more interesting to philosophers than to the non-academic reader. Günter Gaus also interviewed her (visible on YT).
I’ll check those out, thanks!
[…] (und im Tenor völlig unterschiedliche) Besprechungen finden sich u. a. bei Nettebuecherkiste, Büchereulen und […]
[…] Vladimir Nabokov: Lolita – Rezension […]
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